Samstag, den 22. Juni 1985

Fahrt zum Flughafen Frankfurt

"Was, du willst nach China fahren ? ? ?" Diese erstaunte Frage hörte ich in den letzten Wochen immer wieder, wenn ich nach meinen Urlaubsplänen gefragt wurde. Jeder war neugierig und interessiert und gab auch gleich weiter, was er über China gehört hatte: "Paß auf, die spucken immer! - Weißt du, daß die Chinesen Hund und Schlange essen? - Mußt du etwa auch mit Stäbchen essen? - Wie ist denn das Klima dort und muß man sich vorher impfen lassen?"- ---

Alle diese Fragen hatten uns ja auch schon seit dem ersten Vorbereitungs- abend am 7. März beschäftigt. Das mit den Stäbchen war dabei das geringste Problem. Nach einem Probeessen im China-Restaurant in Minden - mit Stäbchen natürlich - sahen wohl alle darin keine Schwierigkeiten mehr. Kopfzerbrechen machten uns andere Dinge: Malaria Prophylaxe, ja oder nein? Welches Mittel? Was für Kleidung nimmt man mit? Wieviel Geld? Aber bei den 10 Vorbereitungsabenden ging es natürlich auch um Land und Leute Alte Geschichte, neue Geschichte, Klima, Kunst, Wirtschaft, um alles, was mit China zu tun hat. Zum Schluß schwirrte mir im Kopf vieles durcheinander, die Ming-, Han-, Song-, Shang- und Tang-Dynastie, Buddhismus, Daoismus und Lamaismus, was ist Yin und was ist Yang?

Jetzt sitzen wir endlich im Bus nach Frankfurt, um mit dem Flugzeug 10.000 km nach China zu fliegen, um dort an Ort und Stelle alles Gehörte und Gelesene zu ordnen und noch recht viel dazu zu lernen. Der Bus ist um 6.00 Uhr von Lübbecke abgefahren. Wir sind zu viert dort eingestiegen. Am Kreishaus in Minden erwartet uns eine große Schar China-Reisender. Kurze Begrüßung, die Koffer werden verstaut, man winkt den Angehörigen zu, die zurückbleiben, und ab geht's zum Bahnhof. Dort holen wir Janzes ab, die schon von Hannover mit dem Zug angereist sind. Nun sind wir fast komplett und es geht auf die Autobahn Richtung Frankfurt!

Georg teilt Pässe und Flugscheine aus, die er uns wohlweislich nicht schon vor Antritt der Reise gegeben hat. Jetzt heißt es aufpassen! Er ist diese Verantwortung los, wir haben sie nun!

Seit unserer Abfahrt regnet es schon. In der Gegend von Unna hört es zwar auf, dafür bekommen wir aber auf der Sauerlandlinie Nebel. Es ist ruhig im Bus. Einige lesen das "Mindener Tageblatt" von heute, - es wird wohl für lange Zeit die letzte deutsche Zeitung sein - andere dösen vor sich hin und überlegen vielleicht, was sie vergessen haben könnten.

Wir sind gut in der Zeit und machen um 9.45 Uhr in Katzenfurt, ca 60 km vor Frankfurt, eine halbstündige Kaffeepause. Danach steht "Gesangstunde" auf dem Stundenplan. Jeder kramt seine Liederblätter heraus, Hans-Martin, der Chorleiter, stimmt an: Jetzt fahrn wir übern See - Lustig ist das Zigeunerleben - Hoch auf dem gelben Wagen. Am besten gefällt uns "Ein Jäger aus Kurpfalz". Wir können es sogar in zwei Gruppen mit versetztem Einsatz singen. Der Busfahrer ist beeindruckt, und auch wir glauben, mit diesen Liedern in China gut anzukommen.

Die Zeit ist durch das Singen sehr schnell vergangen und wir sind schon um 11.30 Uhr in Frankfurt. Der Bus hält vor der Halle, an der wir ein Schild mit dem Namen unserer Fluggesellschaft entdecken: P I A - Pakistan International Airlines. Alle sind ausgestiegen, die Koffer ausgeladen, da ertönt plötzlich eine Stimme: "Mein Koffer ist nicht dabei !!!" Wir starren Frau Scheel ungläubig an. Der Kofferraum im Bus wird noch einmal inspiziert. Nichts !! Jeder muß seinen Koffer in die Hand nehmen. Es bleibt keiner übrig für Frau Scheel !! Alles Überlegen, Suchen und Fragen hilft nichts, der Koffer ist nicht da. Sollte er etwa in Minden stehengeblieben sein? Georg ruft Bekannte in Minden an, sie möchten einmal am morgendlichen Treffpunkt nach dem Koffer forschen. Inzwischen erkundigt sich jemand am Schalter, ob man den Koffer, falls er gefunden wird, nach China nachschicken kann. Natürlich geht das, es dauert nur vier Wochen! Ein zweiter Anruf in Minden klärt alles auf. Der Koffer stand verdeckt hinter einem Blumenkübel am Parkplatz! Wie das passieren konnte, kann sich keiner erklären. Niemand beneidet Frau Scheel, aber jeder bewundert sie, wie sie diese Situation meistert. Ich stelle mir nur vor, wie ich reagiert hätte, aber der Gedanke allein ist so fürchterlich, daß ich ihn gleich wieder verdränge.

In dieser Aufregung hat kaum einer bemerkt, daß Heidrun und Hatti in einem atemberaubendem Tempo ihren aufgeplatzten Koffer gegen einen neuen Schalenkoffer eintauschten: Rein in einen exklusiven Laden, Koffer aussuchen, umpacken, bezahlen, 3 Minuten, fertig! !

Im Flugzeug
Um 12.30 Uhr gehen wir an Bord. Unsere Plätze in der Maschine, einem "Jumbo" DC 10-30, sind leider von anderen Passagieren belegt. Wir dürfen uns auf andere, manchmal nicht so gute, setzen und haben so Gelegenheit, uns in asiatischer Gelassenheit zu üben. Bei manch einem klappt es auch schon ganz gut. Der Start verzögert sich um 20 Minuten, aber um 14.00 Uhr sind wir endlich in der Luft. Die Speisekarte verspricht leckere Gerichte: Roastbeef, französische Bohnen, Noisette Kartoffeln, Waldorfsalat und Apfelkuchen. Wir bekommen großen Appetit, es ist ja schließlich Essenszeit! Als serviert wird, ist dann allerdings aus dem Roastbeef Hühnchen geworden, aus den Noisette Kartoffeln Reis und aus dem Apfelkuchen Pudding!

Als wir um 17.20 Uhr in Istanbul zwischenlanden, beträgt der Zeitunterschied schon eine Stunde. Wir dürfen aussteigen und uns im Flughafengebäude die Beine vertreten. Schnell werden noch einige Flaschen und Zigaretten gekauft. Dann geht es um 18.33 Uhr wieder in die Luft. Nach dem Abendessen wird das Licht dunkler geschaltet und ich versuche ein wenig zu schlafen.

Hans-Martin und Georg beobachten fasziniert helle Blinklichter draußen in der Nacht. Es scheint ein Flugzeug zu sein, das neben uns fliegt, aber der Abstand bleibt immer der gleiche. Oder sollten es die Positionslichter unserer eigenen Maschine sein ??? ! ! !

Gisela Brand