![]() Montag, 24. Juni 1985 Große Besichtigungstour in Beijing Um sieben Uhr reißt mich der Wecker unerbittlich aus tiefem Schlaf. Zwei anstrengende Reisetage forderten ihren Tribut, aber nun springe ich voller Erwartung aus dem Bett. Es ist reichlich warm in unserem Hotelzimmer, da wir die laut ratternde Klimaanlage ausgeschaltet haben. Ein lauwarmes Duschbad bringt Erfrischung, jedoch schon beim raschen Anziehen gerate ich wie- der ins Schwitzen. Allzu schnelle Bewegungen sind in diesem heißen Klima offensichtlich nicht zu empfehlen. Während meine Zimmergefährtin Christiane vom Fenster aus den vorbeiströmenden Straßenverkehr beobachtet, blättere ich im Cicerone. Herr Zhu hat uns das reichhaltige Programm dieses ersten Tages in Peking schon vorgestellt: Tian-An-Men-Platz, Mao-Mausoleum, Himmelstempel, Kaiserpalast, Kohlenhügel, Besuch der Peking-Oper, Mittag- und Abendessen in der Stadt, keine Mittagspause. Kein Zweifel, ich befinde mich auf einer Studienfahrt. Um acht Uhr treffen wir uns alle pünktlich im Frühstücksraum. Je acht Personen nehmen an einem großen runden Tisch für Langarmige Platz. Gespannt warten wir auf unser erstes Frühstück in China: Chinesisches oder europäisches Frühstück, das ist die Frage. Wir erhalten fettige Spiegeleier, Toast, Butter, Orangenmarmelade, teefarbenen Kaffee und heiße Milch. Der Kaffee wird aus Gläsern getrunken. Wir haben die richtige Technik bald heraus: Man darf das Glas nur halb füllen, sonst gibt es Brandblasen an den Fingern. Um 8.45 Uhr installieren wir uns in unserem modernen Reisebus, d.h. jeder sucht sich einen guten Platz - die vorderen Aussichtsplätze sind sehr begehrt und schnell vergeben und verhängt die Düsen der Klimaanlage mit der Busgardine. Erkältungsgefahr droht überall! Unser erstes Ziel, der Platz des Himmlischen Friedens (Tian-An-Men-Platz), liegt im Zentrum der Stadt. Mit einer Ausdehnung von 40 ha ist er von beeindruckender Größe. Er wird begrenzt vom Tor des Himmlischen Friedens (Tian-An-Men) im Norden, dem Vortor (Qian-Men) im Süden, der Großen Halle des Volkes im Westen und dem Museumspalast im Osten. Gleich neben dem Monument der Volkshelden in der Platzmitte liegt das Mausoleum von Mao Zedong. Mao wird also der erste Mensch sein, den wir in China besuchen. Vor dem Gebäude wartet eine wohl mehrere hundert Meter lange Menschenschlange in Viererreihen geduldig in der sengenden Sonne. Auch wir reihen uns in die Schlange ein, d.h. eine Lücke bildet sich, und wir dürfen uns ganz vorn anstellen. Ich habe kein gutes Gefühl ob dieser Sonderbehandlung. Nach diesem Pflichtbesuch gestattet uns Herr Zhu eine halbe Stunde lang freien Auslauf auf dem großen Platz. Sofort mischen wir uns unter die Menge der dunkelköpfigen chinesischen Ausflügler. Da kann man uns Fotografen kreuz und quer über den Tien-An-Men rennen sehen, in Einzelfällen sogar mit zwei schußbereiten Kameras bewaffnet. Wozu haben wir schließlich eine Plastiktüte voller Filme mitgebracht? Bei idealem Fotowetter sind wir in unserem Element, nehmen Gebäude und Menschen aufs Korn. Zufrieden mit der Ausbeute steigen wir schließlich um zehn Uhr wieder in unseren Reisebus, der uns zum Himmelstempel bringen soll. Während der Fahrt lernen wir im Schnellkurs einige Worte Chinesisch: Ni Hao (Guten Tag), Xie Xie (Danke), Zai Tian (Auf Wiedersehn). Ich lasse sie mir vorsichtshalber von Herrn Zhu aufschreiben. Die von zwei Mauern umschlossene Tempelanlage Tian Tan liegt in der südlichen Stadt in einem 270 ha großen Park mit uralten Zypressen. Sie gilt als die schönste Tempelanlage Chinas und ist am heutigen Tag das Ziel zahlloser chinesischer und ausländischer Besucher. Alle Gebäude sind liebevoll restauriert und gepflegt. Herr Zhu erklärt uns die vielfältige Symbolik der Formen und Farben. Mich fasziniert besonders die Ikonographie der Dachfiguren. Sie erzählt die Geschichte des grausamen Tyrannen Prinz Min (ca. 283 v.Chr.), der im Kampf besiegt und zum Tode durch Hängen verurteilt wurde. Nun muß er als Steinfigur auf einer Henne reiten, die behindert durch das Gewicht ihres Reiters, nicht davonfliegen kann. Die hinter dem Prinzen wachenden mythischen Tiere verhindern seine Flucht über das Dach. Der Qi Nian Dian, eine dreistufige Rotunde, die durch ihr Rund und ihre blauen Ziegel den Himmel symbolisiert, gilt als der eigentliche Himmelstempel. In ihm pflegte der Kaiser für eine gute Ernte zu beten. Auf dem Himmelsaltar (Huan Qin Tan) vollzog er anschließend die Opferriten. Wir probieren auf dem runden Pflasterstein in der Terrassenmitte einen merkwürdigen Schalleffekt aus: Die eigenen Worte sollen lauter als gesprochen zurückschallen. Ich kann dies leider nicht nachvollziehen. Wahrscheinlich habe ich vergessen, mich zum Stein hin zu bücken. Nach kurzer Foto- und Shopping-Pause fahren wir im wohltemperierten Bus (ca. 26°, während draußen die Temparatur auf 33° gestiegen ist) zum Restaurant in der Volkskongreßhalle. Dort wartet schon das zehngängige Mittagessen auf uns. Ich gebe mir Mühe bei der Auswahl der Speisen Yin und Yang zu berücksichtigen, d.h. abzuwechseln zwischen Fisch und Fleisch, milden und scharfen, süßen und sauren Speisen. Die Stäbchen kann ich schon ein wenig handhaben, jedoch haben bei mir die unteren Stäbchenenden vertrackterweise unterschiedliche Längen, so daß ich wiederholt die Stäbchenhaltung korrigieren muß. Ich fülle meinen gesunkenen inneren Flüssigkeitspegel mit dem reichlich vorhandenen Bier wieder auf, und schon bald gibt Herr Zhu das Zeichen zur Weiterfahrt. Im Bus empfängt uns Musik: Der Montanara-Chor begleitet uns zur nächsten "Besichtigungsschlacht" im Kaiserpalast, der ca. 100 ha umfassenden Verbotenen Stadt, die in den Dynastien Min und Qing nicht nur als Zentrum des Reiches, sondern auch als Zentrum der Welt und sogar des Kosmos galt. Wir betreten sie durch das Mittagstor im Süden und folgen der Hauptachse nach Norden, die von den Gebäuden für offizielle Anlässe zu d'en kaiserlichen Wohngebäuden führt. Wir scharen uns um Herrn Zhu, der sich alle Mühe gibt, Gebäude und Sehenswürdigkeiten genau zu erläutern - keine leichte Aufgabe in dem herrschenden Besuchergewimmel. Mir scheint, halb Peking macht heute einen Ausflug in die Kaiserstadt. Wir "Langnasen" erregen bei vielen Chinesen erhebliches Aufsehen. Eine Gruppe einfach gekleideter Bauern freut sich besonders über unsere großen Füße und zeigt kichernd auf die roten Fußnägel einiger Damen. Ich habe gelesen, daß rote Nägel in China als Sexsymbol gelten. Unsere Verabredung für Fotografen - erst zuhören, dann fotografieren - läßt sich nur schwer einhalten. Nicht nur ich wage zwischendurch immer wieder einen Schnappschuß, verfolge dabei jedoch aufmerksam die Bewegungen der Gruppe. Nicht jedem gelingt das perfekt. Als Herr Zhu an den Grantapfelbäumen einen unerwarteten Haken nach rechts schlägt, verlieren wir einen Teil der Gruppe, darunter auch unseren deutschen Reiseleiter. Welch en Pech! Die abgehängten versäumen das Palastmuseum und sollten deshalb zum Besuch der Berliner China-Ausstellung "Schätze aus der Verbotenen Stadt" verpflichtet werden. Erst im Palastgarten treffen wir die Abtrünnigen wieder. Um 16.00 Uhr sitzen wir, ziemlich ermattet von der ungewohnten Hitze und den vielen fremdartigen Eindrücken, wieder im Bus und freuen uns auf eine kleine Ruhepause. Jedoch weit gefehlt! Der schweißtreibende Aufstieg auf den 50 m hohen Kohlenhügel vor dem nördlichen Palasttor steht uns bevor. Einige müde Krieger müssen erst sanft dazu überredet werden, aber schließlich stehen alle oben und genießen die herrliche Aussicht auf die gelben geschwungenen Dächer des Kaiserpalastes, die in seltsamen Kontrast zu Pekings modernen Hochhäusern im Hintergrund stehen. Der Abstieg über ausgetretene Stufen wird noch einmal halsbrecherisch, dann fährt uns der Bus zur Atzung und - fast noch wichtiger - zur Tränke ins Chin-Shao-Hotel. Gestärkt und erfrischt stellen wir uns um 18.45 Uhr der Peking-Oper. Da Herr Zhu das gegebene Stück nicht kennt, müssen wir die Handlung selbst herausfinden. Dies erweist sich jedoch als unmöglich, da auf der Bühne von den wenigen Schauspielern kaum Handlung dargestellt wird und wir die symbolische Bedeutung der sparsamen Schritte und Gesten nicht kennen. Mir wird nur der Gebrauch des Tränentüchleins verständlich. Ich beschränke mich schließlich darauf, die prächtigen Kostüme zu bewundern und versuche, mich in die fremdartige Musik einzuhören. Die Schauspieler singen sehr nasal in den höchsten Tönen, und die chinesischen Zuschauer klatschen vor Begeisterung bei ihnen bekannten Melodien. Nach 90 Minuten zur großen Pause hat Herr Zhu ein Einsehen und schlägt einen Barbesuch im berühmten Peking-Hotel an der Chang-an-Avenue vor, damit die aufkommende Müdigkeit vertrieben wird. Während der Busfahrt dorthin löst er auch unser Rätsel: Das Stück heißt: "Der vierte Sohn besucht seine Mutter". Die überquerung der Chang-an-Avenue vorm Hotel erweist sich als schwieriges Unterfangen. Gott sei Dank reagieren die vielen unbeleuchtet fahrenden Radfahrer schnell und kurven klingelnd im Slalom um uns ängstliche Fußgänger herum. Im Peking-Hotel finden wir leider keinen Platz, so daß ein Kurzeinkauf von Souvenirs als Entschädigung dienen muß. Wir freuen uns auf eine Tasse Jasmintee im Dadu-Hotel, doch leider müssen wir feststellen, daß unser fürsorglicher Herr Klingsiek die letzten Teebeutel für "Notfällel" requiriert hat. Christiane und ich behelfen uns mit Cognac aus dem Frankfurter Duty-Free-Shop, ein ausgezeichneter Schlaftrunk, der uns bald in Morpheus Arme sinken läßt. Gisela Brandhorst
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